Review: Der Speichermann

Wer noch auf der Suche nach einer Graphic Novel für lange Winternächte ist, dem möchte ich heute „Der Speichermann“ von Kai Meyer, illustriert von Jana Heidersdorf, empfehlen.

Als sich ein kleiner Junge auf den Dachboden des riesigen Landsitzes seiner Familie verirrt, macht er die Bekanntschaft eines seltsamen Alten, der behauptet, der Weihnachtsmann zu sein und versucht, den Jungen zu sich zu locken. Der Junge flieht, doch auch in späteren Jahren begegnet er dem Speichermann immer wieder, sobald er den Dachboden betritt.
Jedes Mal will ihn der Mann mit Geschenken und Versprechen zu sich locken, doch warum? Ist es wirklich der Weihnachtsmann, der während des restlichen Jahres auf dem weitläufigen Dachboden darauf wartet, das es Heiligabend wird und was kann er nur von seinem Besucher wollen?

„Der Speichermann“ basiert auf der gleichnamigen Kurzgeschichte, die Kai Meyer in den 1990er Jahren für eine Weihnachtsanthologie schrieb. Darin stellte er sich die Frage, warum der Weihnachtsmann keine Geschenke mehr bringt und was wohl mit ihm passiert sein könnte.

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Jana Heidersdorf ist eine unheimlich talentierte Fantasy-Illustratorin mit einem schaurig schönen Stil. Sie schuf unter anderem die Bilder für die illustrierte Ausgabe von Stephen Kings „Sleeping Beauties“ und die neuen Cover der „Merle“-Reihe von Kai Meyer.

„Der Speichermann“ besticht durch eine perfekte Mischung aus der gruseligen Geschichte und den düsteren Illustrationen, die die Handlung perfekt in Szene setzen.
Das ideale Buch also für lange, kalte Nächte, in denen die Grenzen zwischen Traum und Erinnerung verschwimmen.

Review: Unfollow

In den sozialen Netzwerken taucht ein Influencer auf, der es schafft, Millionen von Menschen für seine Ideen zu begeistern: Earthboi.
Als kleiner Junge erscheint er praktisch aus dem Nichts, mit Erinnerungen, die bis zu Entstehung der Welt zurückreichen. Aus dem Kinderheim bricht er aus, um fortan im Wald und im Einklang mit der Natur zu leben, allerdings nicht ohne vorher den Laptop und das Handy der Heimleiterin und ein Solar Panel vom nahegelegenen Supermarkt zu stehlen und auf YouTube, Instagram und Co von seinem autarken Leben fernab der Menschen zu berichten.

Schon bald erreicht Earthboi mehr und mehr Follower, die ihn für seine Videos über das Leben in der Natur und die Dokumentation der Umweltverschmutzung feiern. Als er die Influencerin Yu kennenlernt und sich in sie verliebt, schließen sich die beiden zusammen, um noch mehr Menschen zu erreichen.
Earthboi beginnt damit, eine Art Meditations-App zu programmieren, die ihre Nutzer wieder in Einklang mit der Natur bringen soll und die Menschen so begeistert, daß sie sich zu einem weltweiten Phänomen entwickelt.

Gemeinsam mit Yu beschließt Earthboi all seine Visionen wahr werden zu lassen und zusammen mit anderen Influencern und Gleichgesinnten eine autarke Kommune zu errichten, die er „Erde“ nennt. Hier leben Earthbois Followers zusammen, bauen Obst, Gemüse und Getreide an, widmen sich der Gemeinschaft und ihrer Selbstverwirklichung und tragen die Botschaft, daß ein nachhaltiges Leben möglich ist über ihr Social-Media-Kanäle in die Welt hinaus.
Earthboi wird für seine Follower und die Bewohner von Erde immer mehr zu einer Art Guru, der ihnen in Ritualen beibringt, eins mit dem Kosmos zu werden; doch einige seiner Anhänger verklären seine Ideen bald so sehr, daß sie bereit sind, Earthbois Traum von einer besseren Welt mit radikalen Mitteln in die Tat umzusetzen…

„Unfollow“ von Lukas Jüliger ist eine Graphic Novel die aktueller kaum sein könnte. Es geht um Nachhaltigkeit, Umweltschutz und den um den Wunsch, aus der Konsumgesellschaft auszubrechen, aber auch um die Macht von Social Media.
Mich hat „Unfollow“ von der ersten Seite an fasziniert, mir aber auch ständig Gänsehaut bereitet. Die Geschichte um Earthboi ist keine, die man einfach mal so nebenher weglesen sollte, sondern fordert die Aufmerksamkeit des Lesers und sorgt dafür, daß man immer wieder innehält und über die Denkansätze und Zwischentöne des Buches nachdenken muss.

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Lukas Jüliger beeindruckt aber nicht nur durch eine extrem tiefgründige Geschichte, sondern auch durch unheimlich atmosphärische Illustrationen, die das Geschehen in oft ungewöhnlichen Perspektiven einfangen, fast so, als würde der Leser die Szene aus einem Versteck heraus beobachten.
Dabei benutzt Jüliger Blau- und Apricottöne, die er so geschickt einsetzt, daß man zuweilen fast das Gefühl hat, man könnte die Wärme und Kälte beim Lesen auf der Haut spüren.

„Unfollow“ ist eine extrem schön gestaltete Graphic Novel mit viel Tiefgang, die alle begeistern wird, die schön gestaltete Titel lieben und sich auch nachdenklich mit aktuellen Themen wie Nachhaltigkeit und Umweltschutz auseinandersetzen.

Herbststimmung im Oktober

Die letzten Tage hält sich der Nebel vor meinem Fenster meist bis Mittag und sorgt dafür, daß ich mich lieber mit einem guten Buch und einer Kuscheldecke zusammenrolle, als das Haus zu verlassen.
Auch diesen Monat gibt es wieder ein buntes Sammelsurium an noch un-, halb- und schon ausgelesenen Büchern, die ich euch heute gerne vorstellen möchte.

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Zwei Romane, die auf den ersten Blick scheinbar wenig miteinander zu tun haben, sind „Was ich im Wasser sah“ von Katharina Köller und „Queenie“ von Candice Carty-Williams. Doch bei beiden stehen Frauen im Mittelpunkt, die auf die eine oder andere Weise mit ihrer Gesundheit zu kämpfen haben.

In „Was ich im Wasser sah“ (von mir bisher erst angelesen) geht es um Klarissa, die als Brustkrebs-Überlebende auf die Insel zurückkehrt, auf der sie aufgewachsen ist.
Katharina Köller hat einen sehr eindringlichen Erzählton, der mich fasziniert. Bald also mehr darüber!

Um die seelische Gesundheit einer jungen Frau geht es in „Queenie“, welches ich bereits gelesen habe.
Was zunächst als 08/15 RomCom über eine ebenso charmante wie naive Protagonistin beginnt, entwickelt sich im Lauf des Buches zu einem unheimlich relevanten Buch über psychische Probleme, deren Stigmatisierung, über Alltagsrassismus und Mikroaggressionen, und einem Plädoyer für Selbstliebe.
Darüber werde ich schon ganz bald mehr berichten!

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Zwei Titel, die man nicht wirklich in die Kategorie „Romane“ einsortieren kann, sind „Aus der Zuckerfabrik“ und „Gefolgt von niemandem, dem du folgst“.

„Aus der Zuckerfabrik“ von Dorothee Elmiger steht derzeit auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises und lässt sich nur schwer in eine Kategorie einordnen. Roman? Tagebuch? Recherche? Reportage? – Dorothee Elmiger versucht in diesem Buch einer Spur aus Zuckerkrümeln zu folgen.

Mit „Gefolgt von niemandem, dem du folgst“ hat der Satiriker Jan Böhmermann sein Twitter-Tagebuch von 2009-2020 vorgelegt, in dem der Autor zunächst recht banale Sachen von sich gibt, oder seinen damaligen Chef Harald Schmidt trollt, aber nach und nach eine immer politischere Stimme findet.

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Mit gleich zwei Büchern über William Shakespeare geht es weiter!

Letzten Monat stellte ich euch doch die schöne Reihe  Weltklassiker: Kurz & Gut aus dem Bohem Verlag vor, die unter anderem von Becca Stadtlander illustriert wurde. Nachdem mir ihre Bilder so gut gefallen haben, habe ich ein wenig recherchiert und dabei „Bold and Brave Women from Shakespeare“ entdeckt. Klar, daß ich mir das sofort gönnen musste!

Das zweite Shakespeare Buch diesen Monat ist „Judith und Hamnet“, mit dem Maggie O’Farrell vor Kurzem den Women’s Prize for Fiction gewonnen hat.
Ihre Autobiografie „Ich bin, ich bin, ich bin“ hat mich vor etwa anderthalb Jahren schwer beeindruckt und ich liebe ihren unaufgeregten und trotzdem bildgewaltigen Schreibstil sehr.
In „Judith und Hamnet“ geht es um Shakespeares Familie; besonders seinen kleinen Sohn Hamnet, der früh starb und darüber, wie sein Tod die Familie beeinflusste.
Aktuell lese ich dieses Buch sehr langsam, weil ich mich gar nicht traue, es in den Zug mitzunehmen, aus Angst, daß ich dann vielleicht in der Öffentlichkeit weinen muss.

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Die letzten beiden Bücher drehen sich um faszinierende Künstlerinnen.
Mit „Frida“ legt Maren Gottschalk einen Roman über das Leben von Frida Kahlo vor und „Kusama“ von Elisa Macellari ist eine Graphic Novel über die berühmte japanische Künstlerin Yayoi Kusama. Zwei Bücher also, die mich schon brennend interessieren!

Kennt ihr den ein oder anderen Titel von meinem Oktober-Stapel schon?
Was lest ihr gerade?

Ich wünsche euch ein gemütliches Herbstwochenende!
Eure Andrea

 

Review: Schwarze Seerosen

Michel Bussi ist Krimilesern von Titeln wie „Das Mädchen mit den blauen Augen“ oder „Fremde Tochter“ bestimmt ein Begriff. Eines seiner früheren Werke „Nymphéas noirs“ („Schwarze Seerosen“) ist zwar bisher nicht ins Deutsche übersetzt worden, allerdings dank des Splitter Verlags nun als Graphic Novel auch für die deutschsprachige Leserschaft erhältlich.

Wer sich – wenn auch nur kurz – mit dem französischen Impressionisten Claude Monet beschäftigt hat, der wird auch den Namen Giverny schon einmal gehört haben. In diesem kleinen Dorf lebte und arbeitete der Künstler viele Jahre lang; hier legte er den Seerosenteich an, an dem er seine berühmtesten Bilder malte.

In ebendiesem idyllischen Dörfchen geschieht ein Mord. Der wohlhabende Augenchirurg Jéròme Morval wird tot in einem kleinen Bach gefunden: erschlagen, erstochen und ertränkt… Jemand muss folglich einen großen Hass auf diesen Mann gehabt haben.
Die Ermittler stoßen auch schon bald auf ein mögliches Motiv, denn Morval war ein Frauenheld, der viele Affären hatte. Könnte es sein, daß seine Ehefrau, ein eifersüchtiger Ehemann oder eine verlassene Geliebte den Mord begangen hat?
Doch auch andere Motive kommen in Frage. So war es Morvals größter Wunsch, einen echten Monet zu besitzen. Ist er deshalb mit zwielichtigen Kreisen in Kontakt gekommen?
Und was hat es mit der geheimnisvollen Postkarte auf sich, die in der Jackentasche der Leiche gefunden wurde? Darin wird jemandem zur 11. Geburtstag gratuliert, doch wem?
Als die Polizei herausfindet, daß in den 1930er Jahren an der gleichen Stelle ein elfjähriger Junge tot aufgefunden wurde, wird die Verwirrung immer größer.
Hängen die beiden Todesfälle irgendwie miteinander zusammen?

„Schwarze Seerosen“ beginnt fast wie ein Märchen:
„In einem Dorf lebten drei Frauen… Die erste war böse… Die zweite eine Lügnerin… Die dritte eine Egoistin…“
Die drei Frauen, um die es geht, könnten unterschiedlicher nicht sein. Die erste ist eine über achtzigjährige Witwe, „zumindest fast“, wie sie sagt, die im Turm der „Hexenhaus“ genannten Mühle lebt und als stumme Beobachterin mehr weiß, als sie preisgibt.
Die zweite Frau ist Mitte dreißig und in einer unglücklichen und kinderlosen Ehe gefangen.
Die dritte im Bunde ist ein elfjähriges Mädchen, die das Malen liebt und davon träumt, eines Tages an einer angesehenen Kunsthochschule zu studieren.
Alle drei haben eines gemeinsam: Sie wollen weg aus Giverny und ihrem alten Leben, und alle drei werden in den Ermittlungen um den Mord eine große Rolle spielen…

„Schwarze Seerosen“ hat mich absolut begeistert. Die Geschichte ist großartig inszeniert und auch wenn den Leser hin und wieder eine leise Ahnung beschleicht, wie alles zusammenhängen könnte, begreift man wirklich erst ganz am Schluss, was da eigentlich passiert ist. Das als Graphic Novel umzusetzen, muss eine große Herausforderung gewesen sein, die aber perfekt gelungen ist.

Krimis sind ja meist keine Bücher, die man zweimal liest, schließlich kennt man dann die Lösung schon, doch im Fall der „schwarzen Seerosen“ lohnt es sich absolut, die Geschichte noch einmal zu lesen um zu begreifen, wie gekonnt man hier von Autor Michel Bussi, sowie Fred Duval und Didier Cassegrain, die für die Adaption zur Graphic Novel verantwortlich waren, in die Irre geführt worden ist.

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Die Illustrationen fangen die Stimmung in dem verschlafenen Dörfchen ganz wunderbar ein und nutzen gelegentlich auch bekannte Motive von Monet, um die Handlung der Geschichte darin einzubetten.
Beim Blättern bekommt man jedenfalls sofort Lust, seine Sachen zu packen und Giverny einen Besuch abzustatten.

„Schwarze Seerosen“ ist für mich eine der gekonntesten und besten Romanadaptionen, die ich in dieser Form gesehen habe.
Für mich ein absolutes Highlight und eine ganz große Leseempfehlung!

Review: Hawking

Ich finde es ja immer großartig, wenn komplexe Themen mithilfe der Kunst anschaulich und dadurch verständlicher gemacht werden.
Autor Jim Ottaviani und der Illustrator Leland Myrick nehmen sich in ihren Graphic Novels die bekanntesten Physiker vor und nun ist mit „Hawking“ nach „Feynman: Ein Leben auf dem Quantensprung“ (auf Deutsch leider mittlerweile vergriffen, aber auf Englisch noch lieferbar) ihre zweite Biografie erschienen.

Darin erzählen sie von Stephen Hawkings Leben, angefangen bei seiner Kindheit, über das Studium und die niederschmetternde Diagnose Motoneuron-Krankheit, seine Karriere und Theorien.
Dabei muss gesagt werden, daß Hawkings Privatleben nicht im Fokus der Geschichte steht, sondern daß eher versucht wird, seine Arbeit und Ideen zeichnerisch zu vermitteln. Diese werden mit der Zeit natürlich immer komplexer und um ehrlich zu sein konnte ich ihnen nur zum Teil folgen.

Was ich aus diesem Buch mitnehme ist, daß Begriffe wie „schwarze Löcher“ oder die Idee eines sich ausdehnenden Universums, die heutzutage jedes halbwegs interessierte Schulkind kennt, zu der Zeit, als Stephen Hawking begann, sich mit theoretischer Physik zu beschäftigen, noch gar nicht existierten oder als Denkkonzepte in den Kinderschuhen steckten.
Hawking hat mit seinen Arbeiten Diskussionen angestoßen, die unsere Vorstellung vom Universum maßgeblich vorangetrieben haben.

Man braucht aber definitiv nicht in Panik zu verfallen, wenn man den Theorien in dieser Graphic Novel nicht immer folgen kann. Hawkings Lebensgeschichte wird in die Kapitel über theoretische Physik immer mit eingeflochten, so daß allen unter uns, die nicht Physik studiert haben, trotzdem nicht langweilig wird.

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Illustriert wurde die Graphic Novel von Leland Myrick mit einfachen Tuschezeichnungen, die dann recht flächig koloriert wurden; dennoch kann man trotz des recht reduzierten Stils viele Details und die Gesichtsausdrücke immer klar erkennen.

„Hawking“ ist eine umfangreiche Graphic Novel-Biografie, die sowohl interessierte Laien, als auch Fachleute ansprechen und begeistern wird.
Egal, wie viel man von theoretischer Physik versteht, das ein oder andere wird man garantiert aus diesem Buch lernen und dabei trotzdem bestens unterhalten.

Review: Ein Freitod

Bald ist wieder Frankfurter Buchmesse, wo dieses Jahr Norwegen Ehrengast sein wird. Im Lauf der letzten Monate habe ich Euch schon einige norwegische Neuerscheinungen vorgestellt, heute soll es nun um eine sehr persönliche Graphic Novel des Comic-Künstlers Steffen Kverneland gehen.

In „Ein Freitod“ erzählt Kverneland vom Selbstmord seines Vaters, der sich wenige Monate nach dem achtzehnten Geburtstag seines Sohnes das Leben nahm.

Inzwischen sind 38 Jahre vergangen, doch man merkt, daß Steffen Kverneland immer noch nicht mit diesem Ereignis abgeschlossen hat. Spät ist er durch Adoption selbst Vater geworden und so sitzt er oft mit seinem kleinen Sohn zusammen und spürt der Zeit mit dem eigenen Vater nach…

Odd Kverneland war ein äußerst liebevoller Vater, ein begeisterter Erfinder, jemand der gerne Witze machte… aber auch ein Mensch, der die Welt oft in schwarz und weiß sah, nicht viel von Ausländern oder Andersdenkenden hielt und getrieben war von inneren Dämonen.

Kverneland erzählt von seinen Kindheitserinnerungen, den guten, wie den schlechten und versucht, in all dem etwas Bedeutsames zu finden, das damals schon erahnen ließ, wie sein Vater bald darauf seinem Leben ein Ende setzen würde.
Dabei fällt ihm aber auch auf, wie viel von ihm bis heute überdauert hat; sei es der alte Zeichentisch, an dem dieses Buch entstand, oder die lustigen Ausdrücke, die er benutzte und die der Autor heute in Gesprächen mit dem eigenen Sohn verwendet…

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Ähnlich wie Nora Krug ihrer Familiengeschichte letztes Jahr in „Heimat“ nachgespürt hat, bedient sich Steffen Kverneland ebenfalls einer spannenden Mischung aus Familienfotos, Aquarellen und Tuschezeichnungen und springt immer wieder von den Vergangenheit mit seinem Vater zur Gegenwart mit dem eigenen Sohn.

„Ein Freitod“ ist eine wirklich sehr persönliche und berührende Geschichte, die versucht, im Suizid eines geliebten Menschen irgendeinen Sinn zu erkennen. Und sie erzählt vom Weiterleben, dem Vermächtnis und den Erinnerungen, die bleiben.

Review: Woyzeck – Graphic Novel

Ach, ach… Georg Büchners „Woyzeck“
Kaum eine Schullektüre ist mir in schlechterer Erinnerung geblieben, als dieses sehr kurze Dramenfragment. Unvergessen der Tag, an dem ich – das unbeliebteste Mädchen der Klasse – zusammen mit einem der „coolen“ Jungs eine Liebesszene daraus vorlesen musste. Mit hochrotem Kopf stotterte ich mich durch den Text, der für mich keinen Sinn ergab, während mein Lehrer darauf bestand, daß ich doch mit ein bißchen mehr Leidenschaft lesen könnte und die Klasse hinter mir kicherte…

Nein, Freunde wurden „Woyzeck“ und ich nun wirklich nicht.

Doch manchmal stolpert man über Interpretationen und Umsetzungen, die eine neue Perspektive vermitteln können und uns alles in einem anderen Licht sehen lassen.
Im Fall von „Woyzeck“ ist mir vor kurzem eine Graphic Novel in die Hände gelegt worden, die schon auf den ersten Blick versprach, diesem angestaubten Text Leben einzuhauchen.

Illustrator Andreas Eikenroth hat die Geschichte grafisch inszeniert und die Fragmente zum Teil neu geordnet. Dabei hat er sich von Künstlern wie George Grosz, Karl Arnold oder Egon Schiele inspirieren lassen und die Handlung insgesamt ein wenig modernisiert, indem er sie vom Anfang des 19. Jahrhunderts in die Weimarer Republik verlagert hat.

Für alle, denen „Woyzeck“ als Schullektüre erspart geblieben ist, eine kurze Zusammenfassung:
Franz Woyzeck ist Soldat und arbeitet nebenher als Diener des Hauptmanns. Außerdem verdient er sich noch etwas Geld dazu, indem er sich vom Doktor auf eine Erbsendiät setzen lässt. Dabei darf er monatelang nichts anderes als eben Erbsen zu sich nehmen, was Woyzeck aber bald ans Ende seiner Kräfte und nach und nach um den Verstand bringt.
Das Geld, das er dabei verdient, gibt er seiner Freundin Marie, mit der er ein uneheliches Kind hat, und nimmt dafür die Schikanen des Hauptmanns und des Doktors auf sich.
Als Marie dann aber eine Affäre mit dem Tambourmajor beginnt, verfällt Woyzeck in einen regelrechten Wahn, der ihn bis zum äußersten treibt…

Ich muss ganz ehrlich sagen, daß mich die Geschichte des Woyzeck damals zur Schulzeit absolut langweilte und kein bißchen berührte.
Obwohl ich zu dieser Zeit ganz gerne Dramenklassiker gelesen habe, fand ich nie einen Zugang zu diesem Werk.

Andreas Eikenroths Graphic Novel hat mich dann aber wirklich fasziniert und die Geschichte in einem komplett neuen Licht sehen lassen.
Denn Woyzeck hat sein Herz durchaus am rechten Fleck. Das beweist schon, was er alles auf sich nimmt, um seine Familie zu versorgen. Doch die äußeren Umstände machen es ihm unmöglich, nicht zu scheitern.

Würde man die Handlung in unsere Zeit in die Außenbezirke von Chicago versetzen, den Hauptmann zu einem Drill Sergeant machen und die Erbsendiät zu einer pharmazeutischen Versuchsreihe… plötzlich könnte jeder Woyzeck als absolut zeitgemäßes Drama sehen, das bis heute nichts von seiner Aktualität eingebüßt hat.
Schade, daß mein Lehrer mir das seinerzeit nicht wirklich vermitteln konnte.
Durch diese Graphic Novel habe ich aber nun endlich einen anderen Blick auf diese ungeliebte Schullektüre bekommen.

Unbedingt mal reinschauen!

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Review: Sumpfland

Heute möchte ich Euch eine ganz besondere Graphic Novel vorstellen, die mich sehr beeindruckt hat: „Sumpfland“ der deutschen Künstlerin Moki aus dem Reprodukt Verlag.

In „Sumpfland“ folgen wir sehr verschiedenen Charakteren in recht unterschiedlichen Geschichten, die aber durch gemeinsame Themen miteinander verbunden sind.
Da ist zum Beispiel Ocre, eine Frau die durch die Landschaft zieht und versucht, eins mit ihr zu werden. Dann gibt es den introvertierten Aldi und seine Füchsin Puffi, deren Beziehung fast an Aldis Eigenbrötlerei zerbricht. Und es gibt die Getüme, seltsame quallenartige Wesen, die all ihre Energie auf Arbeit und ökonomisches Wachstum verwenden, bis die Frage nach der Endlichkeit der Ressourcen aufkommt.

Es gibt viele gesellschafts- und sozialkritische Themen, die in „Sumpfland“ angesprochen werden: die Zerstörung der Natur und der Versuch einzelner, zur Natur zurückzufinden oder die Wachstumsgesellschaft, in der die Leistung des Einzelnen kaum gewürdigt wird. Es gibt aber auch sehr menschliche Themen, wie Verlassen zu werden, sich selbst zu verlieren und wiedergefunden zu werden.

So richtig erklären kann man „Sumpfland“ nicht. Man muss es schon gesehen haben und die Bilder auf sich wirken lassen; bestimmt werden viele Leser ganz andere Themen für sich entdecken.
Dabei würde man die Vielschichtigkeit dieser Graphic Novel beim ersten Durchblättern vielleicht gar nicht erkennen, denn Mokis Protagonisten sind Wesen, die wirken, als wären sie aus den verschiedensten Filmen oder Comics zusammengewürfelt worden. Da gibt es zum Beispiel die kleinen, niedlichen Flocken, die aussehen, wie flauschige Bällchen, die aber alles sehr genau beobachten und kritische Fragen stellen, oder Ichi, eine Art hasenohrigen Geist, der so zufrieden mit sich und der Welt ist, daß er stets nur das Gute sieht.

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Die Seiten des Buches sind alle in einem hellen Grünton gehalten, die Illustrationen wechseln von cartoonhaften Zeichnungen zu detailverliebten Skizzen, ohne daß es dabei zum Stilbruch kommen würde.

„Sumpfland“ ist für mich definitiv eins der Graphic Novel-Highlights dieses Jahres, auch wenn es mir wirklich schwerfällt, die Geschichte auf den Punkt zu bringen.
Denn hier werden in erster Linie Emotionen transportiert und das schafft Moki wie es wirklich nur wenige können.
Sollte Euch „Sumpfland“ also beim nächsten Besuch in Eurer Lieblingsbuchhandlung in die Hände fallen, dann lest auf jeden Fall rein!

Review: Audubon – On the Wings of the World

Kennt ihr eigentlich Jean-Jacques (John James) Audubon?
Ich muss selber zugeben, daß ich mir seinen Namen nie merken konnte, allerdings ist mir sein bedeutendes Werk ein Begriff: „The Birds of America“.

„The Birds of America“ gilt mittlerweile als ein Meisterwerk der Buchkunst. Wenn heutzutage eines der wenigen vollständigen Exemplare versteigert wird, werden immer Millionenbeträge dafür gezahlt.
Doch der Weg, den Audubon ging, um dieses Werk zu schaffen, war oft mehr als nur steinig…

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In Haiti geboren und in Frankreich aufgewachsen, wurde der junge Jean-Jacques Audubon in die amerikanischen Ländereien seines Vaters geschickt, um den Napoleonischen Kriegen zu entgehen.
Nachdem er als Geschäftsmann gescheitert war, widmete er sich seiner großen Leidenschaft: den Vögeln.

Er reiste durch das ganze Land, um jeden amerikanischen Vogel zu finden, zu fangen und zu malen. Eine Idee, die auf wenig Unterstützung stieß, immerhin gab es schon einen Atlas der Vogelkunde, der erst kurz zuvor herausgegeben wurde.
Ein weiterer Kritikpunkt war, das Audubon die Vögel nicht in streng wissenschaftlichen Illustrationen abbildete, sondern sie künstlerisch ambitioniert und in lebensechten Situationen darstellte.
Doch Audubon ließ sich nicht beirren und opferte sein halbes Leben diesem Projekt, das schließlich in Großbritannien und nicht in den USA realisiert wurde.

Das Besondere an diesem Buch ist außerdem, daß Audubon versuchte, die Vögel möglichst im Maßstab 1:1 abzubilden, es ist also ein wirklich großes Buch, das unter anderem in „Alles Licht, das wir nicht sehen“ erwähnt wird.

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Obwohl das Leben und Werk von Jean-Jacques Audubon wirklich faszinierend ist, hätte ich mich wohl nie damit beschäftigt, gäbe es nicht diese schöne Graphic Novel von Fabien Grolleau und Jérémie Royer.
Vor kurzem hatte ich ja schon ihren Band über Darwin gelesen, der mir so gut gefallen hat, daß ich mir diesen Titel dann sofort bestellte.

Die Geschichte wurde im franko-belgischen Comicstil illustriert, mit einfach gezeichneten Figuren und opulenten Landschaftsbildern.

„Audubon – On the Wings of the World“ ist eine dieser Graphic Novels, die Wissen und Kunst vereinen, eine Idee, für die Audubon selbst schon vor zweihundert Jahren geworben hat.

Meine Rezension zu der schönen Graphic Novel über Charles Darwin findet ihr hier:

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Review: Darwin – An Exceptional Voyage

Review: Nennt mich Nathan

Eine Graphic Novel zu einem spannenden Thema möchte ich Euch heute ans Herz legen: „Nennt mich Nathan“ von Catherine Castro und Quentin Zuttion aus dem Splitter Verlag.

An sich hat Lila eine schöne Kindheit, auch wenn es immer wieder Situationen gibt, die sie ärgern: wenn ihre Oma ihr eine rosa Tasche statt eines Taschenmessers schenkt, oder wenn ihre Mutter sie bittet, ein schickes Kleid anzuziehen.
Doch als ihr Körper anfängt, sich in der Pubertät zu verändern, nehmen Angst und Selbsthass überhand. Denn für Lila ist klar, daß sie kein Mädchen ist.

Aus Lila wird Nathan; ein Schritt, der vor allen Dingen Nathans Familie ratlos zurücklässt. Die Mutter sorgt sich, der Vater glaubt an eine Phase, der kleine Bruder vermisst seine große Schwester…
Doch Nathan weiß, daß er nur glücklich werden kann, wenn er seinen eigenen Weg geht.
Zusammen mit der Hilfe seiner anfangs noch zögerlichen Eltern und Freunde, Experten und Beratern beginnt Nathan seine Reise, um endlich er selbst sein zu können…

Bis vor anderthalb Jahren hatte ich mich nicht groß mit dem Thema Transidentität beschäftigt. Ich hatte eher zufällig die ein oder andere Doku gesehen und war bei YouTube über die sehr bewegende Rede von Lana Wachowski gestolpert, die sie gab, als ihr der HRC Visibility Award verliehen wurde.

Danach hatte ich zwar immer noch keine Ahnung, wie eine Geschlechtsangleichung nun wirklich abläuft, aber ich wurde mir der Tatsache bewusst, daß die Selbstmordrate bei Trans Teenagern erschreckend hoch ist.

Vor anderthalb Jahren dann erklärte eine liebe Bekannte, daß es eine kleine Veränderung im Familienleben geben würde: von nun an hätte ihr Kind einen männlichen Vornamen und würde in Zukunft als Junge leben.
Unsere Söhne sind im selben Alter. Wir haben nicht viel Kontakt, sehen aber auf Facebook, wie die Kinder langsam größer werden.
Mich überraschte dieser Schritt nicht besonders, denn im Laufe der Jahre war das kleine Mädchen langsam aus den Fotos verschwunden und von einem selbstbewussten, lustigen Jungen abgelöst worden.
Dennoch berichtete meine Bekannte von Unverständnis in ihrem Bekanntenkreis und auch wenn ich die Entscheidung der Familie absolut nachvollziehen konnte, musste ich mich selbst über Geschlechtsangleichungen schlaumachen.

Als ich deshalb „Nennt mich Nathan“ sah, war ich sofort begeistert, daß man dieses Thema so greifbar und ehrlich in Szene gesetzt hat.
Nicht nur Nathan kommt zu Wort, sondern auch sein Bruder und seine Eltern, und so schwankt man als Leser immer wieder zwischen Nathans Wunsch nach Veränderung und der Angst, die die Familie vor eben dieser Veränderung hat.

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Die Geschichte wurde in einem reduzierten Stil illustriert: einfache Tuschezeichnungen, die recht flächig koloriert wurden.
Trotzdem taucht man schnell ab in Nathans Geschichte und durchlebt Höhen und Tiefen mit ihm und seiner Familie.

Ich bin ja immer sehr dankbar, wenn Verlage Themen aufgreifen, die nicht gerade Mainstream sind und Bücher machen, die vielleicht nur eine recht kleine Zielgruppe ansprechen, für die es aber unglaublich wichtig ist, gesehen und gehört zu werden.
In diesem Sinne: auch (oder vielleicht besonders) wenn ihr Euch noch nie mit dem Thema Transidentität beschäftigt habt, werft einen Blick in diese wunderbare Graphic Novel!