Review: Herkunft

Saša Stanišić ist ja derzeit in aller Munde, nicht zuletzt durch seine großartige Aktion, bei der er das Hamburger Abitur, in dem es um seinen Roman „Vor dem Fest“ ging, unter Pseudonym mitgeschrieben hat und dabei 13 Punkte absahnen konnte.

Bisher hatte ich von ihm nur seine Kurzgeschichtensammlung „Fallensteller“ gelesen, die mich aber sehr begeistern konnte, und das, obwohl ich mir ja mit Kurzgeschichten meist ein wenig schwertue.

Stanišićs neustes Buch „Herkunft“ ist ein autobiografischer Roman, der mir von allen Seiten begeistert empfohlen wurde. Klarer Fall, daß ich ihn da natürlich lesen musste!

Als Sašas Großmutter immer dementer wird, beschließt er, die Geschichten seiner Familie aufzuschreiben, bevor sie verloren gehen.
Er erzählt von seinem Urgroßvater, der als Flößer arbeitete, und der den Gesang seiner zukünftigen Frau für den einer Vila – einer Art Flußgeist – hielt und sich in die Drina stürzte, um nicht von ihr verflucht zu werden. Von der Familie der Großmutter, die in einem gottverlassenen Dorf in den Bergen lebte und zum Teil immer noch lebt, von seinem Vater, der einem Schlagennest wie durch ein Wunder entkam und von dem Tag, an dem seine Mutter auf dem Marktplatz gefragt wurde, ob sie denn wisse, wie spät es sei, und sie begreift, daß es Zeit ist, zu fliehen…

Saša Stanišić erzählt aber auch von seiner eigenen Geschichte und der Flucht nach Deutschland.
Als Sohn einer Bosniakin und eines Serben wächst er unbeschwert in dem Vielvölkerstaat auf, der damals Jugoslawien war. Die verschiedenen Religionen und Ethnien gehören für ihn zu seinem Land, wie zu seiner Familie. Doch dann bricht der Krieg aus und plötzlich ist nichts mehr so, wie es einmal war.
Die Mutter flieht mit ihrem Jungen nach Deutschland, der Vater kommt einige Zeit später nach, der Rest der Familie zerstreut sich in alle Winde und das Land aus Sašas Kindheit hört auf zu existieren.

„Meine Familie lebt über die ganze Welt verstreut. Wir sind mit Jugoslawien auseinandergebrochen und haben uns nicht mehr zusammensetzen können.“

In Deutschland beginnt ein neues Leben für Saša und seine Eltern. Die gut ausgebildeten Eltern – eigentlich Betriebswirt und Politologin – können plötzlich nur noch als Hilfskräfte arbeiten, man lebt in Flüchtlingsunterkünften und versucht, sich eine Wohnung mit dem einzurichten, was andere nicht mehr brauchen…
Doch Saša findet sich bald in Deutschland zurecht, schließt Freundschaften, und entdeckt dank eines engagierten Lehrers seine Liebe zur Literatur.

Während Saša diese Geschichte aufschreibt, schwindet das Gedächtnis seiner Großmutter mehr und mehr und bald begreift er, daß die Erinnerung eine trügerische Sache ist. Denn als er versucht, einzelne Geschichten, die ihm sogar selbst passiert sind mithilfe seiner Familie genauer zu rekonstruieren, muss er feststellen, daß vieles, an was er sich lebhaft erinnert, so gar nicht passiert sein kann…

Deshalb darf man bei „Herkunft“ auch keinen linearen Bericht erwarten. Die Geschichte springt vor und zurück, erzählt eine Begebenheit, nur um sie kurz darauf zu widerlegen und bietet zuweilen schon mal alternative Abläufe an.
Ich finde diesen Erzählstil wirklich großartig, denn man ist als Leser selbst gefragt, sich die Handlung ein wenig zusammen zu puzzeln und wenn wir schon bei Spielereien sind, dann möchte ich noch von dem großartigen letzten Teil der Geschichte erzählen.
(Vorsicht, wer sich überraschen lassen möchte, sollte alles Kursive überspringen!)

„Herkunft“ endet mit Sašas letztem Besuch bei seiner mittlerweile völlig dementen Großmutter. Sie ist die Frau, die ihn aufgezogen hat, als seine Eltern beruflich eingespannt waren und die nun in einem Pflegeheim ihre letzten Tage verbringt. Eigentlich müsste Saša zurück nach Deutschland fliegen, doch er schafft es nicht, sich von seiner Großmutter zu trennen und so beginnt die Geschichte „Der Drachenhort“, in der man selbst in Saša Stanišićs Rolle schlüpft und in Form eines Choose Your Own Adventure eine letzte Nacht bei der Großmutter verbringt.

Für alle, denen dieser Begriff nichts sagt: vielleicht erinnert ihr Euch ja an Bücher wie „Die Insel der 1000 Gefahren“, in denen man Entscheidungen treffen und dann auf der entsprechenden Seite weiterlesen muss?

Genau das macht Saša Stanišić am Ende dieses Buches und so entscheidet der Leser selbst, wie Sašas letztes Treffen mit seiner Großmutter verläuft.
Ich konnte es natürlich nicht lassen und habe, sobald ich ein Ende erreicht hatte, wieder zurückgeblättert, um all die anderen Szenarien durchzuspielen. Manchmal endet die Geschichte sehr nüchtern und lakonisch, dann wieder in einem fulminanten letzten Abenteuer, in dem es die Großmutter sogar mit Drachen aufnimmt…

Ich war schwer beeindruckt von diesem Buch und davon, wie begeistert und spielerisch Saša Stanišić seine Geschichte verpackt.

Beim Lesen musste ich aber auch immer wieder daran denken, daß ich in einer Welt groß geworden bin, in der es Länder wie Jugoslawien, die ČSSR oder die DDR noch gab.
Jugoslawien war ein Land, in das ich als Kind mit meinen Eltern in den Urlaub fuhr; leckeres Essen, nette Menschen und wunderschöne Strände…
Als mir meine Eltern erklärten, daß wir nicht mehr dort hinfahren könnten, weil es Krieg gab, konnte ich die Tragweite des Ganzen natürlich nicht verstehen. Für mich war klar, daß die netten Menschen offenbar beschlossen haben mussten, ihr leckeres Essen und die schönen Strände für sich zu behalten.
(Wie gesagt, ich war damals noch ein Kind.)

Es ist doch aber auch eigentlich unvorstellbar, daß es zu meinen Lebzeiten (und nein, ich habe die 40 noch nicht erreicht!) Krieg in europäischen Urlaubsländern gab! – Daß Menschen aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit und Religion abgeschlachtet wurden…
Wir leben mittlerweile in einem Europa, in dem wir so an diesen Einheitsgedanken gewöhnt sind, daß immer wieder Stimmen laut werden, doch endlich wieder unabhängig zu werden. Für uns sind Frieden und Wohlstand die Normalität, so daß wir völlig vergessen haben, wie schnell es zu einem Krieg kommen kann.
Und Saša Stanišić schreibt in „Herkunft“:

„Heute ist der 21. September 2018. Wäre am nächsten Sonntag Bundestagswahl, käme die AfD auf 18% der Stimmen.“

Autor: Lesen... in vollen Zügen

Seit 20 Jahren arbeite ich als Buchhändlerin in München und seit 2017 gibt es nun "Lesen... in vollen Zügen". Hier möchte ich euch vorstellen, welche Bücher mich gerade bewegen. Meine Beträge verfasse ich im Plauderton, eben so, wie ich auch mit meinen Kunden im Laden ins Gespäch komme. Der Schwerpunkt liegt dabei auf aktueller deutsch- und englischsprachiger Literatur. Aber ich bin auch ein großer Fan von schönen Illustrationen und stelle deshalb regelmäßig Graphic Novels und spannende illustrierte Sachbücher vor. Zu meinen Lieblingsautoren gehören Haruki Murakami, Banana Yoshimoto und Amélie Nothomb. Außerdem mache ich mir immer wieder Gedanken zum Thema Leseverhalten in der Rubrik Mein Leben als Leser und plaudere aus dem Nähkästchen in Bekenntnisse einer Buchhändlerin. Wem jetzt aber die Züge bei "Lesen... in vollen Zügen" zu kurz kommen, der kann gerne bei In vollen Zügen nach… vorbei schauen. Hier berichte ich von meinen Zugreisen, den Büchern, die mich dabei begleiten, den Städten die ich besuche und natürlich auch von schönen Buchhandlungen, die es dort zu entdecken gibt.

15 Kommentare zu „Review: Herkunft“

  1. Herkunft ist so wichtig. Nur so sehen wir wo wir hingehen können.
    Werde nach dem Buch schauen. Und allen sei ein Tipp auf den Weg mitgegeben: nehmt die Geschichten auf. Das ist erst mal einfacher. Und es geht so schnell, das Leben…
    Liebe Grüße
    Nina

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