Review: Die Zeuginnen

Kaum ein Buch hat mich durch mein Leben verfolgt, wie „Der Report der Magd“ von Margaret Atwood. Der Roman erschien in Deutschland, als ich etwa vier war und ich kann mich heute noch erinnern, daß ich all die Jahre bei fast jedem Besuch einer Buchhandlung über das sonderbare Cover stolperte.
Als Teenager griff ich wohl dann auch zum ersten Mal danach, doch zu dieser Zeit hatten wir noch kein Wort für „dystopische Geschichten“. Und so war die Rede von Science Fiction, was mich angesichts der mittalalterlich anmutenden Roben und Hauben auf dem Cover nur verwirrte und das Buch wieder weglegen lies.
Irgendwann kaufte ich es mir dann auf einem Bücherflohmarkt, aber dennoch stand der Roman noch viele weitere Jahre ungelesen in meinem Regal.
Ich sage immer, daß es nicht vieles gibt, was ich im Leben bereue, aber den „Report der Magd“ nicht schon viel früher gelesen zu haben gehört definitiv dazu.
Als ich ihn dann endlich aus dem Regal zog und die ersten Seiten las, konnte ich gar nicht mehr aufhören. Ich weiß noch, wie ich in der Arbeit die Minuten zählte, bis ich endlich wieder zurück zu diesem Buch durfte. (Und nein, auch wenn ich in der Arbeit von Büchern umgeben bin, ist Arbeitszeit keine Lesezeit!)

Die Fernsehserie habe ich aber nie gesehen. Nur ein paar Ausschnitte, und da schreckten mich die offene Brutalität und Grausamkeit ab. Natürlich gab es auch im Roman solche Szenen, aber offenbar weigerte sich mein Gehirn, es mir dann doch so schlimm vorzustellen.

Als ich hörte, daß Margaret Atwood an einer Fortsetzung vom „Report der Magd“ schreibt, war ich einerseits unheimlich gespannt, andererseits aber auch nervös, ob sie mit seinem Vorgänger würde mithalten können.

In „Die Zeuginnen“ kehren wir mehrere Jahre nach dem „Report der Magd“ zurück in den totalitären Gottesstaat Gilead, ehemals USA.
In drei Handlungssträngen erfahren wir mehr vom Innenleben des Regimes, wobei eine der Erzählerinnen eine alte Bekannte ist: Tante Lydia, die wir aus dem Umerziehungslager der Mägde kennen und die dort als wahre Schreckensgestalt geherrscht hat.
Die Tanten sind die einzigen Frauen in Gilead, die lesen und schreiben dürfen. Sie sind anfangs noch für die Umerziehung der Frauen und später für die Erziehung der Mädchen verantwortlich und hüten das genealogische Archiv. Dadurch haben sie eine gewisse Macht, auch wenn das von den herrschenden Männern gerne übersehen wird.
Nun erfahren wir mehr darüber, wie Tante Lydia in diese Position gekommen ist, wer sie vor dem Sturz der Regierung war und was sie vorhat…

Im zweiten Erzählstrang lernen wir Agnes kennen. Sie wächst in Gilead als Tochter eines ranghohen Kommandanten auf und wird ganz im Sinne des totalitären Staates erzogen.
Als Teenager soll sie mit einem wesentlich älteren Kommandanten verheiratet werden; eine Vorstellung, die Agnes in Panik versetzt, doch es scheint keinen Ausweg für sie zu geben.
Als sie dann erfährt, daß eine ihrer Schulkameradinnen inzwischen zur Tante ausgebildet wird, setzt sie alles daran, es ihrer Freundin nachzutun, denn die Tanten dürfen nicht heiraten und genießen fast so etwas wie Freiheit, wenn sie zum Beispiel als Missionarinnen in andere Länder entsandt werden.

Die dritte Erzählerin ist das Teenagermädchen Daisy. Sie wächst in Kanada auf und steht dem Regime des Nachbarstaats äußerst kritisch gegenüber.
Als ihre Adoptiveltern ermordet werden erfährt sie, daß diese Teil einer Widerstandsbewegung gegen Gilead waren. Bald wird deutlich, daß eine mysteriöse Informationsquelle im Inneren des Staates großes Interesse daran hat, das Mädchen persönlich zu treffen…

Die Geschichten der drei Frauen werden als Zeugenberichte, beziehungsweise als eine Art Tagebuch aufgezeichnet. Dementsprechend unterscheidet sich auch der Erzählton der verschiedenen Handlungsstränge stark voneinander.
Tante Lydias Ton ist sehr reflektiert, stellenweise philosophisch, mit umfangreichem Wissen, um die Geheimnisse der Mächtigen von Gilead, was sie immer wieder zu spitzen Bemerkungen und beißendem Zynismus verleitet.
Während Tante Lydia in „Der Report der Magd“ ein fast schon klischeehaft böser Charakter war, wird sie in „Die Zeuginnen“ plötzlich zur wohl spannendsten Figur des Romans.

Agnes dagegen ist deutlich jünger und naiver, schließlich ist sie ihr Leben lang mit den Glaubenssätzen ihres Staates aufgewachsen. Trotzdem beginnt sie mit der Zeit mehr und mehr an den Doktrinen zu zweifeln…
Bei diesen beiden Charakteren hat man meiner Meinung nach deutlich gemerkt, daß sich Margaret Atwood lange mit ihnen und dem System Gilead auseinandergesetzt hat. Daisy, der jüngste Charakter, wirkte auf mich aber irgendwie unfertig und nicht ausgereift genug.
Während sie in Kanada noch äußerst nachgiebig und ruhig ist, verwandelt sie sich ausgerechnet in Gilead, wo jeder falsche Schritt ihr letzter sein könnte, in eine rotzfreche Rebellin, was sie Handlung wohl spannender machen sollte, auf mich allerdings eher gewollt und stellenweise auch recht anstrengend gewirkt hat.

„Die Zeuginnen“ spielt etwa sechzehn Jahre nach dem „Report der Magd“ und bezieht die Handlung der Fernsehserie mit ein. Zwar hatte ich keine Probleme, in das Buch hineinzufinden, obwohl ich die Serie nicht gesehen hatte, doch immer wieder werden wichtige Ereignisse erwähnt, bei denen ich das Gefühl hatte, die Serienzuschauer könnten diese sofort einordnen.
Eine kurze Google-Recherche bestätigte dann auch schnell, daß bestimmt Namen aus der Serie schon bekannt sind und die Zuschauer das Buch mit diesem Wissen lesen, während alle, die lediglich den Vorgänger kennen, nur eine gewisse Vermutung haben werden, wie die Figuren zusammenhängen.
Dem Verständnis der Geschichte tut das aber keinen Abbruch.

Auch wenn „Die Zeuginnen“ für mich nicht an den „Report der Magd“ heranreicht, ist es großartige Unterhaltung, die uns einen tieferen Einblick in die dystopische Welt von Gilead gibt, viele Fragen aus dem ersten Teil klärt und die Geschichte um die Magd Desfred, die mich Jahre lang beschäftigt hat, endlich zu einem gelungenen Abschluß bringt.

Meine Rezension zu „Der Report der Magd“ findet Ihr hier:

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Review: Der Report der Magd

Und schaut Euch doch auch mal die großartige Graphic Novel an. Die ist jetzt übrigens gerade auf Deutsch erschienen:

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Review: The Handmaid’s Tale – Graphic Novel

Autor: Lesen... in vollen Zügen

Seit 20 Jahren arbeite ich als Buchhändlerin in München und seit 2017 gibt es nun "Lesen... in vollen Zügen". Hier möchte ich euch vorstellen, welche Bücher mich gerade bewegen. Meine Beträge verfasse ich im Plauderton, eben so, wie ich auch mit meinen Kunden im Laden ins Gespäch komme. Der Schwerpunkt liegt dabei auf aktueller deutsch- und englischsprachiger Literatur. Aber ich bin auch ein großer Fan von schönen Illustrationen und stelle deshalb regelmäßig Graphic Novels und spannende illustrierte Sachbücher vor. Zu meinen Lieblingsautoren gehören Haruki Murakami, Banana Yoshimoto und Amélie Nothomb. Außerdem mache ich mir immer wieder Gedanken zum Thema Leseverhalten in der Rubrik Mein Leben als Leser und plaudere aus dem Nähkästchen in Bekenntnisse einer Buchhändlerin. Wem jetzt aber die Züge bei "Lesen... in vollen Zügen" zu kurz kommen, der kann gerne bei In vollen Zügen nach… vorbei schauen. Hier berichte ich von meinen Zugreisen, den Büchern, die mich dabei begleiten, den Städten die ich besuche und natürlich auch von schönen Buchhandlungen, die es dort zu entdecken gibt.

9 Kommentare zu „Review: Die Zeuginnen“

  1. Es kribbelt mich schon in den Fingern, den Roman zu lesen, aber ich bin dann doch skeptisch, was die Bezüge zur Serie angeht … und dass der Report der Magd schon was älter ist. Vielleicht sollte man zuerst den Report der Magd nochmal lesen? 😀

    Viele Grüße
    Der Büchernarr Frank

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    1. Also bei mir war es ja auch schon ein Weilchen her, ich hatte vorher nochmal die Graphic Novel gelesen, aber wenn man den „Report der Magd“ noch ein bißchen im Gedächtnis hat, reicht das eigentlich.
      Die Serie kenne ich ja wie gesagt auch nicht. Was halt immer wieder erwähnt wird, auch schon gleich am Anfang, deshalb ist das eher kein Spoiler, ist ein Baby, das aus Gilead entführt wurde.
      Das wurde einfach so oft erwähnt, daß ich gegoogelt hab, was es damit auf sich hat und dann wusste ich es, und die Serienfans wissen es und alle anderen erfahren es halt einfach ein wenig später im Buch. Das wars dann aber auch schon mit den Serienbezügen.
      Liebe Grüße,
      Andrea

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  2. Abgesehen davon, dass Atwoods Buch lange im Regal der Bestseller stand, hat es meine Chefin damals auch in das Regal der Frauenbücher gestellt. Mich hat die Grausamkeit des Buches immer abgeschreckt. Kopfkino ist bei mir ziemlich schlimm, gerade bei Dystopien, ich habe kaum welche gelesen. Das die Serie mit einbezogen wird, finde ich nicht so gut, scheint eine neue Art des Erzählens zu sein, gleich das Drehbuch im Hinterkopf zu haben. ( So wie bei C. Funke ). Und die Serie wird ja fortgesetzt. Die habe ich übrigens auch nicht schauen können.
    Aber Deine Besprechung ist wie immer sehr mitreißend.
    Liebe Grüße
    Nina

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