Review: Durch die Nacht

Dieses Jahr wird ja Norwegen der Ehrengast der Frankfurter Buchmesse sein, weshalb ich mir vorgenommen habe, mich intensiv mit den spannenden Neuerscheinungen zu beschäftigen, die in diesem Zuge auf den Markt kommen.

Ein Titel, der mir bereits auf der Leipziger Buchmesse sehr ans Herz gelegt wurde, war „Durch die Nacht“ von Stig Sæterbakken aus dem Dumont Verlag.

Es ist die herzzerreißende Geschichte von Karl Meyer, dessen Sohn Ole-Jakob Selbstmord begeht und von Karls Versuch, danach irgendwie weiterzuleben.
Von Ole-Jakobs Tod ausgehend, erfahren wir die ganze Geschichte zunächst in Rückblicken: Karl führt ein recht ruhiges Leben mit seinen beiden Kindern im Teenageralter und seiner Frau Eva, zu der er auch nach zwanzig Ehejahren ein sehr inniges Verhältnis hat.
Doch dann verliebt sich Karl ganz plötzlich in die jüngere Mona, wirft dafür sein gesamtes bisheriges Leben über Bord und verlässt seine Familie, nur um bei ihr sein zu können.
Doch bereits nach kurzer Zeit, als der Reiz des Neuen nachlässt, wird Karl klar, welchen Fehler er begangen hat. Er kehrt zu seiner Familie zurück, doch der Schaden ist schon angerichtet. Ole-Jakob spricht nicht mehr mit seinem Vater und zieht sich immer mehr in seine eigene Welt zurück, bis er schließlich einen Autounfall provoziert, der ihn augenblicklich tötet.

Danach ist nichts mehr so, wie es einmal war und die Familie hat sehr unterschiedliche Wege, mit der Trauer umzugehen. Immer wieder muss sich Karl fragen, ob sein Verhalten der Auslöser für Ole-Jakobs Selbstmord war; war es die Beziehung zu Mona, die seinen Sohn dazu getrieben hat, oder lag der Auslöser schon weiter zurück?

Auch Karl zieht sich nun mehr und mehr von sehr seiner Familie zurück und verlässt sie ein weiteres Mal, um ziellos durch Europa zu irren, bis ihm eine Geschichte einfällt, die ihm ein Freund erzählt hatte: von einem Haus irgendwo in der Slowakei, in dem man seinen schlimmsten Ängsten in Auge sehen muss.
Und so macht sich Karl auf, um das Haus zu finden, „wo Hoffnung zu Staub wird“

Die erste Hälfte dieses Buches, in der Karl vom Ende seiner Ehe und dem Selbstmord seines Sohnes erzählt, hatte mich sofort mitten ins Herz getroffen.
Alles wird so eindringlich und ungeschönt beschrieben, daß ich mir in der S-Bahn oft die Tränen aus den Augen wischen musste.
In der zweite Hälfte der Geschichte verlor ich mein Gefühl für Karl aber immer mehr…

Es war für mich kaum zu begreifen, wie er seine Tochter ein zweites Mal verlassen konnte, wie er ihr und Eva zuspricht, ein neues Leben beginnen zu können, während er für sich beschließt, daß es keine Hoffnung mehr gibt und alle Brücken niederreißt.
Ein bißchen Hoffnung hätte ich mir für diesen Charakter dann doch gewünscht.

Ich bin ja nun eine, die am liebsten so wenig wie möglich über die Autoren, die ich gerade lese, wissen möchte, weil die Biografie dann irgendwie immer auf die Geschichte abfärbt, doch ich hatte schon im Vorfeld erfahren, daß Stig Sæterbakken kurz nach der Veröffentlichung dieses Buches selbst Suizid begangen hatte. Deshalb wollte ich im Anschluß noch ein wenig mehr über den Autor herausfinden und stolperte dabei über eine Kontroverse, bei der sich Sæterbakken in der norwegischen Literaturszene unbeliebt gemacht hatte: 2008 musste er nach heftigen Protesten von seinem Posten als Chef des Norwegischen Literaturfestivals zurücktreten. Grund dafür war, daß er den berüchtigten Holocaust-Leugner David Irving als Gastredner eingeladen hatte.
An dieser Stelle muss ich sagen, daß ich nicht wirklich nachvollziehen konnte, warum Sæterbakken ausgerechnet Irving verpflichtete. Offenbar sollte dieser einen Vortrag zum Thema „Wahrheit“ halten. Eine kalkulierte Provokation, bei der das Thema Meinungsfreiheit bis zum Äußersten ausgereizt werden sollte? Die meisten Artikel dazu sind auf Norwegisch, wer also mehr Informationen hat, wessen Geistes Kind Sæterbakken war: immer her damit!

Und so komme ich nun auch nach mehreren Tagen, in denen ich intensiv über dieses Buch nachgedacht habe nicht wirklich zu einem abschließenden Urteil…
Der erste Teil der Geschichte traf mich direkt ins Herz, die Hoffnungslosigkeit der zweiten Hälfte nahm mich gehörig mit und der Autor bleibt mir ein Rätsel.

Wenn ihr also „Durch die Nacht“ ebenfalls gelesen habt, dann würde ich mich freuen zu hören, was ihr zu diesem Roman zu sagen habt!

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Autor: Lesen... in vollen Zügen

Seit 20 Jahren arbeite ich als Buchhändlerin in München und seit 2017 gibt es nun "Lesen... in vollen Zügen". Hier möchte ich euch vorstellen, welche Bücher mich gerade bewegen. Meine Beträge verfasse ich im Plauderton, eben so, wie ich auch mit meinen Kunden im Laden ins Gespäch komme. Der Schwerpunkt liegt dabei auf aktueller deutsch- und englischsprachiger Literatur. Aber ich bin auch ein großer Fan von schönen Illustrationen und stelle deshalb regelmäßig Graphic Novels und spannende illustrierte Sachbücher vor. Zu meinen Lieblingsautoren gehören Haruki Murakami, Banana Yoshimoto und Amélie Nothomb. Außerdem mache ich mir immer wieder Gedanken zum Thema Leseverhalten in der Rubrik Mein Leben als Leser und plaudere aus dem Nähkästchen in Bekenntnisse einer Buchhändlerin. Wem jetzt aber die Züge bei "Lesen... in vollen Zügen" zu kurz kommen, der kann gerne bei In vollen Zügen nach… vorbei schauen. Hier berichte ich von meinen Zugreisen, den Büchern, die mich dabei begleiten, den Städten die ich besuche und natürlich auch von schönen Buchhandlungen, die es dort zu entdecken gibt.

6 Kommentare zu „Review: Durch die Nacht“

  1. Deinen Artikel zu Autor und Buch finde ich wieder einmal sehr gut. Allerdings werde ich das Buch bestimmt nicht lesen. Persönliches vor allen Dingen.
    Ich bin allerdings gespannt, ob noch wer mehr Infos hat.
    Liebe Grüße
    Nina

    Gefällt 1 Person

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