Wenn ich gefragt werde, welches meine liebste Schullektüre war, antworte ich immer, wie aus der Pistole geschossen: „Der Vorleser!“
Es war auch einfach zu schön… Wir saßen damals im Sommer im Schulgarten unter den Bäumen und unser Deutschlehrer las uns den „Vorleser“ vor.
So sieht wohl der perfekte Unterricht für eine zukünftige Buchhändlerin aus.
Die Geschichte und das moralische Dilemma, in dem sich Michael am Ende des Buches befindet, haben mich damals schwer beschäftigt und so hatte ich natürlich hohe Erwartungen an Schlinks neustes Buch „Olga“.
Die Geschichte beginnt Ende des 19. Jahrhunderts und zieht sich bis in unsere Zeit. Die Hauptfigur ist – wie es der Titel schon verrät – Olga, ein Waisenkind, das in ärmlichen Verhältnissen aufwächst. Sie freundet sich mit den Kindern des Gutsbesitzers an und verliebt sich als Jugendliche in dessen Sohn Herbert.
Die beiden durchleben eine fast schon klassische Märchengeschichte; den Widerstand der Eltern, den Hass der Schwester und schließlich Intrigen gegen Olga, die dafür sorgen daß sie nach Ostpreußen versetzt wird.
Doch Herbert und Olga schaffen es, eine Beziehung miteinander zu führen, die jedoch ständig unterbrochen wird, nicht zuletzt, weil Herbert begeistert in den Krieg zieht, die Welt bereist und schließlich auf einer Expedition in die Arktis verschwindet.
An dieser Stelle dachte ich mir: Was? War es das schon, mit dieser Liebesgeschichte?
Doch danach kommt es einem fast so vor, als würde der fast forward Knopf gedrückt werden… Innerhalb von wenigen Seiten ist Olga eine fünfzigjährige Frau, die als Näherin arbeitet.
In einer Familie, für die sie näht, gibt es einen Jungen namens Ferdinand, der sich als der Erzähler der Geschichte herausstellt.
Ferdinand berichtet von seiner Freundschaft mit Olga, die über die Jahre hinweg zu einer mütterlichen Vertrauten wird.
Erst lange nach ihrem Tod beginnt er Nachforschungen anzustellen und kommt schließlich in den Besitz der Briefe, die Olga an Herbert geschrieben hat.
Nun werden auch die Lücken in der Geschichte geschlossen, doch ich muss sagen, daß die Enthüllungen aus den Briefen im Lauf der Handlung schon so angedeutet wurden, daß ich nicht besonders überrascht oder schockiert war.
An den „Vorleser“ kommt Bernhard Schlink mit seinem neuen Buch nicht heran.
(Das Problem des Schriftstellers, der zu Beginn seiner Karriere einen modernen Klassiker schreibt…)
Trotzdem hat mir „Olga“ gut gefallen. Ich mag Schlinks schnörkellosen aber dennoch poetischen Stil und ich mochte diese Geschichte…
Die Geschichte einer Frau, die hilflos zurück bleibt, wenn die Männer in den Krieg ziehen, die sich an die Ereignisse der Vergangenheit erinnert und immer nur davor warnen kann, daß es nichts Gutes mit sich bringt, immer „zu groß“ zu denken…