Seit zwei Jahren nun habe ich mit Ali Smiths Jahreszeiten-Quartett auf Englisch geliebäugelt, nun ist der erste Band „Herbst“ auf Deutsch erschienen, höchste Zeit also, es sich endlich einmal vorzunehmen.
Im Herbst 2016 ist Großbritannien ein gespaltenes Land. Nach dem Brexit Referendum herrscht Katerstimmung, die öffentliche Meinung geht immer weiter auseinander und Fremdenfeindlichkeit tritt besonders in den ländlichen Gegenden immer häufiger offen zutage.
Daniel bekommt davon allerdings nichts mit. Er ist hundert Jahre alt und mittlerweile in der „Phase des vermehrten Schlafs“, wie es die Pfleger und Ärzte nennen. Sie tritt ein, wenn es auf das Ende zugeht und Daniel, den wir in seine Traumwelt begleiten, ist sich selbst oft nicht ganz sicher, ob er noch lebt oder schon tot ist.
Elisabeth Demand dagegen steht zwar mitten im Leben, befindet sich aber als wir sie kennenlernen, in ihrer persönlichen Hölle. Denn um ihren ehemaligen Nachbarn Daniel, der immer auf sie aufgepasst hat, als sie noch ein Kind war, im Pflegeheim zu besuchen, muss sie ihren Pass erneuern lassen. Und das gestaltet sich als schwieriger, als gedacht, denn es scheint unmöglich, die unzähligen Vorgaben zu erfüllen.
Zwischen den Episoden von Daniels Traumwelt und Elisabeths Behördengängen erfahren wir von der Freundschaft der beiden, die ihren Anfang nahm, als Elisabeth acht Jahre alt und Daniel bereits in seinen achtzigern war.
Zwar kann Daniel nicht mit Elisabeth herumtollen, doch er nimmt sie mit auf Reisen in ihre Fantasie, ermutigt sie sich Geschichten auszudenken und beschreibt ihr immer wieder die Kollagen der Pop Art Künstlerin Pauline Boty, von denen er keine Bilder hat und die Elisabeth deshalb nur in ihrer Vorstellung sehen kann.
Später beginnt sie Kunstgeschichte zu studieren und sieht dabei die Bilder, die sie sich jahrelang nur vorstellen konnte, plötzlich zu ersten Mal.
„Herbst“ ist eine sehr ruhige Geschichte, die nicht unbedingt durch einen großen Spannungsbogen, sondern durch die Wechselwirkung der einzelnen Episoden zusammengehalten wird.
Dabei unterscheiden sich die Handlungsstränge nicht nur inhaltlich, sondern auch stilistisch stark. Denn während Daniels Traumwelt sich wie ein höchst poetisches Märchen liest, erinnern Elisabeths Behördengänge derweil fast schon am Monty Python Sketche.
Das alles scheint vielleicht auf den ersten Blick nicht ganz zueinanderzupassen und gelegentlich hat man das Gefühl, völlig verschiedene Bücher zu lesen, trotzdem konnte mich Ali Smiths Erzählstil sehr für sich einnehmen.
Er erinnert ein wenig an die Kollagen von Pauline Boty, auf denen auf den ersten Blick auch wenig zusammenzupassen scheint und die doch ein spannendes Gesamtkunstwerk ergeben.
Ich freue mich jedenfalls schon sehr auf die nächsten Bände des Jahreszeiten-Quartetts. „Winter“ und „Spring“ sind auf Englisch bereits erschienen, „Summer“ kommt im Sommer 2020 auf den Markt.
Meine Rezension von „Winter“ findet ihr hier: