Review: Antigone

Wer heutzutage Sophokles liest, der tut das wohl meist während der Schulzeit. Zumindest kommt es mir als Buchhändlerin so vor, wenn ich in die unmotivierten Gesichter der Kunden blicke, die nach „Antigone“, „König Ödipus“ oder „Elektra“ in der zweisprachigen Reclam-Ausgabe fragen.
Ich selbst hatte nie Griechisch in der Schule und tatsächlich auch keine einzige Unterrichtsstunde zu den großen antiken Tragödien. Klar kennt man in meinem Beruf die Namen, Titel und von einigen auch den groben Inhalt, doch „Antigone“ war eines der Dramen, von denen ich im Vorfeld absolut gar nichts wusste.

Umso spannender fand ich also, daß eben dieser Stoff vom Carlsen Verlag für ihre Graphic Novel-Reihe „Die Unheimlichen“ aufgegriffen wurde.
Vor etwa einem Jahr hatte ich Euch aus dieser Serie bereits Das Wassergespenst von Harrowby Hall vorgestellt, nun erschien diesen Winter „Antigone“ in der Bearbeitung der Comic-Künstlerin Olivia Vieweg, die man von ihrem Drehbuch zum Zombie-Film „Endzeit“ und der darauf basierenden Graphic Novel kennt.

Mit düsteren Themen kennt sich Olivia Vieweg also bestens aus, kein Wunder also, daß sie nun auch einen Teil zu den „Unheimlichen“ beisteuert.
Wer die Reihe noch nicht kennt: Hier interpretieren bekannte Illustratoren klassische Schauergeschichten in ihrem ganz persönlichen Stil neu. – Ein wirklich spannendes Projekt, in das man unbedingt mal reinblättern sollte.

„Antigone“ ist wohl eines der berühmtesten antiken Dramen.
Die titelgebende Heldin ist die Schwester von Polyneikes und Eteokles, die nach dem Tod ihres Vaters König Ödipus beschließen, sich die Herrschaft über Theben zu teilen und abwechselnd zu regieren.
Lange geht das nicht gut und als Eteokles die Herrschaft nicht mehr abgeben will, zettelt sein Bruder eine Rebellion an, die mit dem Tod der beiden endet.
Ihr Onkel Kreon lässt sich daraufhin zum König von Theben ausrufen und verfügt, daß Polyneikes nicht begraben werden darf. Antigone verliert bei dem Gedanken an ihren toten Bruder, der vor der Stadt von wilden Tieren gefressen wird fast den Verstand und nimmt die Dinge in ihre eigenen Hände. Obwohl sie damit das Gesetz bricht, beerdigt sie Polyneikes und wird daraufhin von ihrem Onkel dazu verurteilt, lebendig eingemauert zu werden…

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Wie Anfangs erwähnt hatte ich ja mit diesem Drama noch keine Bekanntschaft gemacht und auch nichts zum Inhalt parat. Ich wusste also absolut nicht, was mich erwarten würde und war dann doch ziemlich geschockt, wie aufreibend und aktuell die Geschichte um Antigone ist, für die der moralischer Kompass wichtiger ist, als willkürliche Gesetze.
In Zeiten, in denen civil disobedience wieder zum Thema wird und in denen Kinder auf die Straße gehen, um für eine bessere Zukunft zu protestieren, wirkt die Geschichte von Antigone, die sich gegen das Gesetz auflehnt, um das zu tun, was richtig ist, alles andere als angestaubt.

Olivia Vieweg setzt die Geschichte in ihrem unverkennbaren Stil und mit starken Kontrasten zwischen den Grautönen bei Landschaft und Menschen und einem tiefen Rot für Sonne und Blut in Szene.
Dabei erzählt sie nicht die ganze Geschichte und lässt das Ende bewusst offen. – Irgendwie passt das zu den Zeiten in denen wir gerade leben…

Autor: Lesen... in vollen Zügen

Seit 20 Jahren arbeite ich als Buchhändlerin in München und seit 2017 gibt es nun "Lesen... in vollen Zügen". Hier möchte ich euch vorstellen, welche Bücher mich gerade bewegen. Meine Beträge verfasse ich im Plauderton, eben so, wie ich auch mit meinen Kunden im Laden ins Gespäch komme. Der Schwerpunkt liegt dabei auf aktueller deutsch- und englischsprachiger Literatur. Aber ich bin auch ein großer Fan von schönen Illustrationen und stelle deshalb regelmäßig Graphic Novels und spannende illustrierte Sachbücher vor. Zu meinen Lieblingsautoren gehören Haruki Murakami, Banana Yoshimoto und Amélie Nothomb. Außerdem mache ich mir immer wieder Gedanken zum Thema Leseverhalten in der Rubrik Mein Leben als Leser und plaudere aus dem Nähkästchen in Bekenntnisse einer Buchhändlerin. Wem jetzt aber die Züge bei "Lesen... in vollen Zügen" zu kurz kommen, der kann gerne bei In vollen Zügen nach… vorbei schauen. Hier berichte ich von meinen Zugreisen, den Büchern, die mich dabei begleiten, den Städten die ich besuche und natürlich auch von schönen Buchhandlungen, die es dort zu entdecken gibt.

15 Kommentare zu „Review: Antigone“

  1. Hui, grosse Kaliber. Ja, die antiken Dramen haben es in sich. Und sind aktuell, die Menschheit ändert sich nicht.
    Allerdings gehöre ich zu den „Schulgeschädigten“ und würde jetzt nicht unbedingt zugreifen. Gelesen, widergekaut, ansehen dürfen… reicht 😙
    (was eigentlich schade ist)
    Liebe Grüße
    Nina

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  2. Ich habe Antigone tatsächlich auch zu Schulzeiten gelesen und gerne bewusst falsch auf dem o betont, was eine ganz zauberhafte Person meines Umfelds schwer in Rage brachte – und wohl noch bringt, ich müsste das mal probieren … 😉 Jedenfalls, in dieser Form hier hätte mir Sophokles vielleicht auch gefallen. Als ich aber damals mein Reclam-Heftchen aufschlug, um mir willkürlich eine erste Textstelle zu Gemüte zu führen, landete ich mein „O Schwester, Du mein eigen Blut, Ismene. Sag einen Fluch von Ödipus, den Zeus nicht schon erfüllt in unser beider Leben!“ und ich dachte mir: „Auwei – ich habe da ein ganz mieses Gefühl …“ Leider wurde dieses Gefühl dann zur Gewissheit … 🙂

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    1. Ich finde ja, daß die Klassiker durchaus Spaß machen können, wenn die Lehrer es schaffen zu zeigen, warum uns das ganze noch nach hundert oder tausend Jahren interessieren sollte.
      Wenn sie das schaffen, dann ist das wirklich ein großer Gewinn. Zum. Glück kümmern sich ja aber auch einige Verlage darum. 😉

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  3. Huhu Andrea!
    Ich find die Reihe vom Calrsen Verlag auch sehr gelungen, so kann man alte Geschcihten ganz neu entdecken. Antigone haben wir tatsächlich in der Schule gelesen, und ich meine mich gaaaanz dunkel zu erinnern, dass mir das Buch eigentlich doch ganz gut gefallen hat (Im Gegensatz zu manch anderem drögen Schulstoff). Da mir die Neuinterpreation von Berenice von Poe schon so gut gefiel in dieser Reihe, wird wohl auch Antigone einziehen dürfen. Und noch ein paar andere aus der Unheimlichen-Reihe. ♥

    Liebe Grüße!
    Gabriela

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  4. Von Jean Anouilh gibt es übrigens eine Fassung von Antigone – allerdings als Drama, keine Graphic Novel, und aus dem Jahr 1942, die mich mit Anfang 20 echt begeistert hat. Sophokles‘ Drama im lakonischen Ton, damit wird der Kontrast zur drastischen Handlung noch härter. Finde ich persönlich wirklich empfehlenswert! Lg, Sarah

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  5. Antigone war mein erstes Reclam Heftchen damals in der Realschule. Wenn ich in den tiefen meines Bücherregals suche werde ich die Ausgabe bestimmt noch finden. Ich war damals von der Geschichte fasziniert. Ich finde die alte Ausdrucksweise einfach immer wieder schön. Ich erinnere mich auch noch gerne an Iphigenie auf Tauris. Dazu stelle ich mir eine Graphic Novel auch gut vor. Danke für den Buchtipp.
    LG Kerstin

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  6. Eine spannende und kreative Umsetzung dieses klassischen Stoffes. Danke für diesen Hinweis, davon hatte ich noch gar nicht gehört… Vielleicht werden Mythen dadurch auch wieder für ein jüngeres Publikum interessanter. Gehaltvoll und erkenntnisreich sind sie ja allemal, auch heute noch.
    Vielleicht interessiert es ja den einen oder anderen, was es mit Mythen, Ritualen und dem Unheimlichen auf sich hat… Dazu gab es jüngst einen Artikel von mir:
    https://tabudiskurs.home.blog/2020/01/21/da-wird-einem-ganz-unheimlich-zumute/

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