Als vor etwa zehn Jahren der „Atlas der abgelegenen Inseln“ auf den Markt kam, war ich sofort begeistert von der wunderschönen Aufmachung und dem spannenden Thema.
Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie ich nach der Arbeit im Zug saß, den Atlas aus der Tasche zog und begann, darin zu lesen. Schon nach ein paar Seiten wurde mir klar, daß dieses Buch nicht das war, was ich erwartet hatte, nämlich ein Sachbuch, in dem unbekannte Inseln vorgestellt wurden.
Es war so viel mehr als das; eine literarische Überraschung voller Geschichten, die mich auf jeweils nur einer Seite in ihren Bann schlugen.
Judith Schalanskys neues Buch „Verzeichnis einiger Verluste“ kann man wohl getrost als die große Schwester des „Atlas der abgelegenen Inseln“ bezeichnen, wie passend also, daß die erste Geschichte von einem verschwundenen Südseeatoll handelt.
In zwölf Geschichten erzählt Schalansky von verschwundenen Dingen: Gedichten, Bauwerken, Kunstwerken oder Tierarten.
Dabei kommt sie meist über Umwege auf das Thema zu sprechen oder streift es nur am Rande.
In der Erzählung „Der Knabe in Blau“ wird der verschollene Film von Friedrich Wilhelm Murnau beispielsweise nicht einmal erwähnt. Stattdessen lässt Schalansky Greta Garbo über das Ende ihrer Hollywood-Karriere nachdenken und dabei Murnaus Totenmaske einflechten, die Garbo viele Jahre lang aufbewahrte.
Andere Geschichten wiederum scheinen recht persönlich zu sein, wie die einer jungen Autorin, die ihren davon Verlag überzeugt, ein Buch über Fabelwesen herauszugeben.
Sie zieht sich in ein kleines Chalet in den Schweizer Bergen zurück, um dort in Ruhe mit dem Schreiben zu beginnen, nur um schon nach wenigen Tagen festzustellen, daß sie jedes Interesse an dem Thema verloren hat.
Jede von Schalanskys Geschichten ist eine eigene Welt für sich, weshalb ich mich der Empfehlung anderer Rezensenten anschließen möchte, die meinten, man solle sich jeden Tag nur eine Erzählung vornehmen, um diese auch wirken zu lassen.
Daß Judith Schalansky nicht nur eine talentierte Autorin, sondern auch Buchgestalterin ist, die mindestens genausoviel Wert auf die äußere Form wie auf den Inhalt legt, fällt in „Verzeichnis einiger Verluste“ sofort auf.
Jede Geschichte ist exakt so lang, daß sie genau ein Segment des Buchblocks füllt, also immer 16 Seiten. Dazwischen liegen schwarze Bögen, die die Erzählungen voneinander trennen und auf denen man im Gegenlicht eine Abbildung des verschwundenen Dinges erkennen kann, um die es in der nächsten Geschichte geht.
Trotz dieser sehr starren äußeren Form wirkt aber keine Erzählung gehetzt oder aufgebläht, was mich sehr beeindruckt hat.
„Verzeichnis einiger Verluste“ ist eine sprachgewaltige Sammlung von Geschichten, in deren Kern immer das Verschwinden und Vergessen steht.
Eigentlich ein recht melancholisches Thema, doch eben durch diese Geschichten beginnt man zu googeln um selbst mehr über das Quedlinburger Einhorn oder die Enzyklopädie im Walde zu lernen.
Und dabei erfährt man auch, daß manches nie ganz verschwindet, wie der Stahl vom Palast der Republik, der eingeschmolzen wurde und für den Bau des Burj Khalifa verwendet wurde.
Wer also tiefgründige und sprachlich geschliffene Kurzgeschichten liebt, der sollte „Verzeichnis einiger Verluste“ definitiv auf seine Leseliste setzen!
Ich habe mir beide Titel auf die Wunschliste gesetzt. Die hören sich beide sehr interessant an.
LikeGefällt 1 Person
Sehr fein! Schau auf jeden Fall mal rein! 🙂
LikeLike
Ich lese es gerade und bin sehr fasziniert von diesem Band, den ich auch noch vorstellen werde. Viele Grüße
LikeLike
Spannend!
Letzthin lag ein Buch in meiner Hand, in dem es um scheinbar verlorene Arten ging.
Aber es war eine Sammlung an Arten, die in Naturkundemuseen schlummern und deren Bestimmung noch garnicht vollzogen ist.
Es kann aber durchaus sein, daß diese NEUEN Insektenarten meist garnicht mehr existent sind, was fast wieder paradox wirkt.
LikeGefällt 1 Person
Oh, das wäre ein Thema das mich interessiert!
Du hast nicht zufällig noch den Titel parat?
LikeGefällt 1 Person
Ja:
Die verlorenen Arten: Untertitel: Große Expeditionen in die Sammlungen naturkundlicher Museen
🙂
LikeGefällt 1 Person
Super, danke!
Das wandert gleich mal auf meine Wunschliste. 🤗
LikeGefällt 1 Person
Wunschliste ja :-)aber bei mir häufen sich zuviel Bücher an, ich könnte endlos kaufen, was aber letztlich keinen Sinn ergibt 🙂
LikeGefällt 1 Person
Die Japaner nennen das Tsundoku. Für dich das schönste aller Laster! 😉
LikeGefällt 1 Person
Ja, so verhält es sich 🙂
Es fühlt sich tatsächlich gut an, zu allerlei Themen Bücher um sich rum zu haben.
LikeGefällt 1 Person
Wieder ein schöner Tipp, der gleich auf meine Wunschliste gewandert ist!
LikeGefällt 1 Person
Oh, das freut mich!
LikeLike