Review: Verwirrnis

Christoph Hein ist ja vielen durch sein Buch „Der fremde Freund/Drachenblut“ bekannt, das auch häufig als Schullektüre gelesen wird.
Ich hatte bisher noch nicht das Vergnügen, aber nachdem ich nur begeisterte Besprechungen zu seinem neusten Buch „Verwirrnis“ gehört habe, bin ich doch sehr neugierig geworden.

Friedeward Ringeling wird 1933 geboren und wächst nach dem Ende des Krieges in Ostdeutschland auf. Sein Vater ist ein Gymnasiallehrer mit erzkonservativen Ansichten, der seine Kinder regelmäßig mit dem Siebenstriemer – einer Art Peitsche – schlägt, wenn sie seinen hohen Anforderungen nicht entsprechen.

Anfang der 1950er Jahre besucht Friedeward die elfte Klasse des Gymnasiums, an dem auch sein Vater unterrichtet, als er sich mit einem neuen Schüler anfreundet.
Wolfgang Zernick ist ein vorbildlicher Schüler mit einem großen musikalischen Talent, von dem Friedeward sehr beeindruckt ist.
Bald schon sind die beiden unzertrennlich und so unternehmen sie auch in den Sommerferien gemeinsam eine Radtour zur Ostsee. Bei dieser Reise wird ihnen klar, daß sie mehr füreinander empfinden, als nur Freundschaft, und so werden Friedeward und Wolfgang ein Liebespaar.

Doch „Sodomie“, wie es zu diesem Zeitpunkt noch heißt, ist strafbar und die beiden jungen Männer müssen äußerst diskret sein, denn sollte ihre Liebe entdeckt werden, droht ihnen Gefängnis.

Es kommt aber, wie es kommen muss…
Trotz aller Vorsicht werden die beiden von Friedewards strengem Vater überrascht, woraufhin dieser Wolfgangs Vater dazu zwingt, seinen Sohn in eine andere Stadt zu bringen, anderenfalls würde er im Gefängnis landen.

Friedeward ist zutiefst getroffen von dem Verlust seines Freundes und zieht sich immer mehr zurück. Erst nach dem Abitur trifft er Wolfgang wieder, und nachdem sie von Zuhause ausgezogen sind, beginnen sie ihre Liebesgeschichte erneut.
Bald schon wird Homosexualität in Ostdeutschland für straffrei erklärt, auch wenn es im Westen der Republik noch eine ganze Weile dauern wird, bis es soweit ist.
Trotzdem bleiben Friedeward und Wolfgang vorsichtig. Wolfgang hält seine Verlobung zu einer Jugendfreundin aufrecht und Friedeward heiratet sogar eine lesbische Freundin, um den Schein zu wahren.

Als Wolfgang die Chance erhält, in Westberlin weiterzustudieren, ergreift er sie und Friedeward kann ihn nur noch selten sehen. Doch dann wird Wolfgangs Homosexualität bekannt, ein Umstand, der ihn im Westen noch ins Gefängnis bringen könnte, doch zurück in die DDR kann er nicht, da er mittlerweile einen Westdeutschen Pass beantragt hat.
Wolfgang flieht von Berlin nach Hamburg und für Friedeward bricht eine Welt zusammen.

Ab diesem Punkt ändert die Geschichte ihren Fokus, denn nun konzentriert sich Friedeward voll und ganz auf seine akademische Karriere, die nur schleppend dahinläuft, weil er kein Mitglied der Partei ist.
Als sich auch noch der Institutsleiter in den Westen absetzt, gibt es an der Universität Gesinnungstests und Entlassungen.
Friedeward kommt mit knapper Not davon, doch bald darauf erhält er einen Besuch der Stasi.
Spionieren kann und will er nicht, doch er ist erpressbar und so stellt sich am Ende des Buches die Frage, die auch schon Bernhard Schlink im „Vorleser“ gestellt hat:
Wieviel ist man bereit zu opfern um ein Geheimnis zu hüten?

„Verwirrnis“ hat mich in mehrfacher Hinsicht überrascht.
Zunächst einmal ist es sprachlich sehr einfach, fast schon berichtsmäßig gehalten. So ist die Geschichte leicht und schnell zu lesen, allerdings hat man das Gefühl, daß einige Szenen überraschend kurz abgehandelt werden.

Auch die Verlagerung des Fokus, von der Liebesgeschichte auf Friedewards Gewissensfrage habe ich nicht kommen sehen und so hat mich das Ende der Geschichte sehr betroffen gemacht.

Immer wieder dachte ich mir während des Lesens: „Schlimm, wie das damals war!“
Doch dann wurde mir bewusst, daß es auch heute noch Menschen gibt, die ihre Sexualität verstecken müssen, weil sie das Gefühl haben, daß ihnen ansonsten berufliche Nachteile entstehen, oder sie mit dem Mobbing von Kollegen oder gar Freunden rechnen müssten.

Und deshalb ist „Verwirrnis“ kein Buch, das nur von einer vergangenen Zeit erzählt, sondern das die immer noch hochbrisante Frage stellt: in welchem Rahmen können wir ein selbstbestimmtes Leben führen?

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Autor: Lesen... in vollen Zügen

Seit 20 Jahren arbeite ich als Buchhändlerin in München und seit 2017 gibt es nun "Lesen... in vollen Zügen". Hier möchte ich euch vorstellen, welche Bücher mich gerade bewegen. Meine Beträge verfasse ich im Plauderton, eben so, wie ich auch mit meinen Kunden im Laden ins Gespäch komme. Der Schwerpunkt liegt dabei auf aktueller deutsch- und englischsprachiger Literatur. Aber ich bin auch ein großer Fan von schönen Illustrationen und stelle deshalb regelmäßig Graphic Novels und spannende illustrierte Sachbücher vor. Zu meinen Lieblingsautoren gehören Haruki Murakami, Banana Yoshimoto und Amélie Nothomb. Außerdem mache ich mir immer wieder Gedanken zum Thema Leseverhalten in der Rubrik Mein Leben als Leser und plaudere aus dem Nähkästchen in Bekenntnisse einer Buchhändlerin. Wem jetzt aber die Züge bei "Lesen... in vollen Zügen" zu kurz kommen, der kann gerne bei In vollen Zügen nach… vorbei schauen. Hier berichte ich von meinen Zugreisen, den Büchern, die mich dabei begleiten, den Städten die ich besuche und natürlich auch von schönen Buchhandlungen, die es dort zu entdecken gibt.

8 Kommentare zu „Review: Verwirrnis“

    1. Ja… Eine liebe Bekannte von mir hat sich auch jahrelang nicht auf der Arbeit outen wollen, weil ihr daß nur blöde Sprüche eingebracht hätte. Und da reden wir von 2010!
      Mittlerweile ist sie glücklich verheiratet und sie und ihre Frau haben dieses Jahr ein Baby bekommen, aber das war auch ein langer steiniger Weg.
      Wenn man das aus der Vergangenheit liest, vergisst man schnell, daß es das doch auch noch heute gibt.
      Viele Grüße zurück!

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  1. Liebe Andrea,

    vielen Dank für deinen Leseeindruck! Ich bin eine Weile um das Buch herumgeschlichen, wollte es dann aber durch die schwere Thematik im Moment nicht selbst lesen. Es gibt so viele schlimme Schicksale, die aus der fehlenden Akzeptanz und Unterdrücken der Sexualität entstanden sind und immer noch entstehen. Gerade habe ich dazu erst „Hör auf zu lügen“ von Philippe Besson gelesen, der darin den Freitod seiner Jugendliebe Thomas verarbeitet. Nach deiner Buchbesprechung scheint mir „Verwirrnis“ ein weiteres sehr wichtiges Buch zu sein, das uns zeigt, dass wir noch nicht am Ziel sind und nur gemeinsam etwas daran ändern können. Vielleicht muss ich doch demnächst danach greifen.

    Viele Grüße, Hannah

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    1. Liebe Hannah,

      ja, da liegt noch ein langer Weg vor uns allen.
      Falls du Angst hast, daß dich „Verwirrnis“ zu sehr mitnehmen könnte… Es hilft, daß das Buch sehr zurückhaltend ist.
      Man taucht nicht allzu tief in das Seelenleben der Protagonisten ein, was einerseits Schade ist, andererseits tut es dann eben auch nicht so weh.

      Viele Grüße zurück,
      Andrea

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  2. Da ist man richtig erschüttert, weil man doch meinen möchte, im Jahre 2018 wären solche Vorurteile längst Geschichte, aber weit gefehlt, ich habe sogar den Eindruck, daß sie sich zur Zeit wieder verstärken, das ist so schlimm. Ich habe nie verstanden, wie man das so verteufeln kann, es handelt sich doch, wie in allen echten Beziehungen, um Liebe! Das ist doch das beste und schönste, was wir in unserem unvollkommenen Leben haben.
    Danke fürs vorstellen und liebe Grüße
    Monika.

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    1. Ja… Ich habe das Glück, recht liberal aufgezogen worden zu sein und arbeite mit einigen schwulen und lesbischen Kollegen und Kolleginnen zusammen, so daß es für mich ganz normal ist, daß jeder den liebt, den er lieben will.
      Das erfordert ja nun wirklich keine übermenschliche Denkleistung, der Chefin zum Baby zu gratulieren und sie zu fragen, wie ihre Frau die Geburt überstanden hat.
      Aber bei vielen Leuten ist da auch heute noch eine mentale Blockade, die kriegen solche einfachen Dinge nicht in ihren Kopf. 😏

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      1. Das Glück, liberal großgezogen worden zu sein hatte ich auch, bei meinem Jahrgang auch nicht ganz selbstverständlich, zumal meine Eltern Jahrgang 1915 und 1925 waren, ich bin ihnen heute noch dankbar für ihre Erziehung zur Mitmenschlichkeit!
        Nein, daß erfordert wirklich keine enorme Denkleistung, und beim Chef mit Frau würde das auch niemandem schwer fallen, da muß noch einiges getan werden, bis es wirklich in den Köpfen ankommt.

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