Review: Neujahr

Am Neujahrsmorgen beschließt Henning, eine Radtour in die Berge Lanzarotes zu unternehmen…
Er ist Anfang vierzig, hat zwei kleine Kinder und führt eine glückliche Ehe. Seine Familie hat absolute Priorität, deshalb tritt der auch beruflich kürzer, um die Kinder zu versorgen und seine Frau zu unterstützen. Eigentlich läuft alles perfekt, wären da nicht die plötzlichen Panikattacken, die Henning immer wieder heimsuchen und ihn aus der Bahn werfen.

Auf seiner Tour beginnt er, über seine Familie und die Angststörung nachzudenken, doch hängen sie wirklich zusammen?
Während des beschwerlichen Aufstiegs scheint ihm seine Fantasie immer wieder Streiche zu spielen und eine innere Unruhe breitet sich in ihm aus.
Als Henning dann endlich den Gebirgspass erreicht wird ihm plötzlich klar; dies ist nicht sein erster Besuch auf Lanzarote. Er war schon einmal als Kind hier und damals muss etwas passiert sein, das ihn schwer traumatisiert hat…

Seit „Nullzeit“ bin ich ja ein großer Fan von Juli Zeh und war dementsprechend gespannt auf ihr neustes Buch.
Wie schon damals bei „Nullzeit“ konnte ich nun auch „Neujahr“ kaum aus der Hand legen und habe es fast in einem Rutsch durchgelesen.

Schon ganz zu Anfang war ich begeistert, denn Juli Zeh seziert das Innenleben einer nach außen hin perfekten Familie so ehrlich und leicht zynisch, wie ich es bisher noch nirgendwo gelesen habe.
Auch wenn Henning und seine Frau Theresa eine sehr gleichberechtigte Ehe führen, scheint es eine Art „Schuldenkonto“ zu geben, das besonders Henning stark im Blick hat. Wieviel Freizeit darf er sich gönnen, wieviel Hausarbeit muss er machen, wenn Theresa mehr verdient? Wieviele Ausflüge muss man mit den Kindern machen, wieviel dem Partner zugestehen, bevor man sich selbst eine Auszeit nimmt?
Ich kann schlecht einschätzen, wie Leser ohne Kinder diese Aufrechnerei finden, ich selbst habe meine Familie dabei sehr oft wiedererkannt und auch mein Mann musste lachen und zustimmend nicken, wenn ich ihm diese  Sätze aus „Neujahr“ vorgelesen habe.
Über dieses „Zeitkonto“, das es wohl in vielen Familien gibt, habe ich bisher noch nie in einem Roman gelesen und war begeistert, wie gut Juli Zeh hier den Nagel auf den Kopf trifft.

Der zweite Teil des Buches ist dann so spannend, daß man stellenweise fast Angst hat, weiterzulesen. Ich möchte an dieser Stelle nicht zuviel verraten, nur soviel: Es gibt weder Mord noch Totschlag, doch (besonders Eltern) müssen sich hier ihren Alpträumen stellen…

„Neujahr“ ist für mich ein absolutes Highlight dieses Herbstes und definitiv ein Buch, das ihr im Dezember auf meiner Geschenketipp-Liste wiederfinden werdet!

 

Mehr von Juli Zeh findet ihr hier:

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Review: Leere Herzen

Autor: Lesen... in vollen Zügen

Seit 20 Jahren arbeite ich als Buchhändlerin in München und seit 2017 gibt es nun "Lesen... in vollen Zügen". Hier möchte ich euch vorstellen, welche Bücher mich gerade bewegen. Meine Beträge verfasse ich im Plauderton, eben so, wie ich auch mit meinen Kunden im Laden ins Gespäch komme. Der Schwerpunkt liegt dabei auf aktueller deutsch- und englischsprachiger Literatur. Aber ich bin auch ein großer Fan von schönen Illustrationen und stelle deshalb regelmäßig Graphic Novels und spannende illustrierte Sachbücher vor. Zu meinen Lieblingsautoren gehören Haruki Murakami, Banana Yoshimoto und Amélie Nothomb. Außerdem mache ich mir immer wieder Gedanken zum Thema Leseverhalten in der Rubrik Mein Leben als Leser und plaudere aus dem Nähkästchen in Bekenntnisse einer Buchhändlerin. Wem jetzt aber die Züge bei "Lesen... in vollen Zügen" zu kurz kommen, der kann gerne bei In vollen Zügen nach… vorbei schauen. Hier berichte ich von meinen Zugreisen, den Büchern, die mich dabei begleiten, den Städten die ich besuche und natürlich auch von schönen Buchhandlungen, die es dort zu entdecken gibt.

18 Kommentare zu „Review: Neujahr“

  1. Tolle Rezension. Bin gespannt, da ich schon einen ziemlichen Verriss gelesen habe. Bin auch großer Juli Zeh-Fan. Nullzeit und Unterleuten ist großartig. Lese gerade Corpus Delicti und bin gespannt aufs neue Buch.

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    1. Ja seltsam… Eine Kollegin meinte auch, sie hätte gar nichts damit anfangen können.
      Ist vielleicht wirklich ein Buch, bei dem es darauf ankommt, wie gut man sich in Kinder rein versetzen kann.
      Für mich war es jedenfalls ein ziemliches Highlight.
      Bin gespannt, wie es dir gefällt.

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      1. Ja, Unterleuten ist natürlich gleich mal ein ziemlicher Wälzer für den Einstieg…
        Wobei ich es wirklich gut fand, weil jedes Kapitel aus der Sicht von jemand anderem geschrieben ist und man als Leser ständig seine Meinung überdenken muss.
        Mich hat damals Nullzeh zum Juli Zeh Fan gemacht. Das ist nicht so dick und spannend wie ein Thriller. 😉

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