Review: Dr. Watson

Jeder Sherlock Holmes Fan kennt die Geschichte von dessen Tod und Wiederauferstehung. Doch viele wissen vermutlich nicht, warum Arthur Conan Doyle seinen beliebtesten Romanhelden – sehr zum Leidwesen seiner Fans und der eigenen Mutter – in die Reichenbachfälle stürzte…

Doyle war an einem Punkt angekommen, an dem die Holmes-Geschichten eine lästige Aufgabe für ihn geworden waren und so verlangte er mehr und mehr Geld von seinen Verlegern, um diese (sozusagen im Guten) zu überzeugen, daß die Welt kein weiteres Holmes-Abenteuer bräuchte.
Doch die Verlage zahlten die übertriebenen Forderungen, und so setzte Doyle in „Das letzte Problem“ eigenmächtig einen Schlußstrich unter seine Detektiv-Geschichten und meinte später dazu: „If I had not killed him, he certainly would have killed me.“

Als ich über „Dr. Watson“ aus dem Splitter Verlag stolperte, dachte ich zuerst an eine Wild-West-Geschichte. Kein Wunder bei diesem Cover… 😉 Doch der Name Watson lies mich aufhorchen und tatsächlich handelte es sich hier um eben den Dr. Watson.

Die Handlung beginnt mit Holmes Sturz in die Reichenbachfälle. John Watson, sein langjähriger Freund und Verbündeter, fällt daraufhin in schwere Depressionen.
Zwar geht er seiner eigentlichen Arbeit als Arzt nach, doch schon bald verwickelt ihn sein detektivischer Spürsinn in neue Fälle.
Dabei stößt er auf die Spur des geheimnisvollen Moriarty und eine Intrige, die Watson auf jeden Fall verhindern muss…
Doch immer wieder kommen Erinnerungsfetzen in ihm hoch, die weder er noch der Leser zunächst zuordnen können… Handelt es sich dabei um Watsons Zukunft oder spielt ihm seine Vorstellungskraft einen Streich?
Um diesem Rätsel auf den Grund zu gehen muss er tief zurück in seine Vergangenheit reisen…

Die Graphic Novel von Stéphane Betbeder und Darko Perovic ist recht klassisch und sehr detailverliebt gezeichnet. Dabei wurde hauptsächlich in Blau- und Sepiatönen koloriert, was für einen stimmungsvollen Retrolook sorgt.
Watson selbst hat nicht viel mit dem gemütlichen Gefährten aus den Büchern gemein. Er kommt als tief gespaltener, aber willensstarker Kämpfer daher.

Allen eingefleischten Sherlock Holmes-Fans sei gleich gesagt: „Dr. Watson“ ist keine einfache Graphic Novel, die die Handlung nach „Das letzte Problem“ aufgreift.
Es ist eine Geschichte, die sich nicht an den Holmes-Kanon hält und auch mit ihm bricht, allerdings ist sie auch ein spannendes Gedankenexperiment.
Es gibt ja Fans (und das bezieht sich auf alle Buchreihen), die ziemliche Probleme damit haben, wenn „ihre“ Geschichten im Nachhinein verändert werden. Man denke nur an die Diskussionen, die eine schwarze Hermine in „Harry Potter and the Cursed Child“ ausgelöst hat.
Andere Fans verschlingen dagegen begeistert Neuinterpretationen und Umdichtungen ihrer Lieblingsgeschichten und freuen sich über andere Herangehensweisen.
Wer zu „Dr. Watson“ greift sollte sich also vielleicht zuerst die Frage stellen, zu welcher Kategorie Fan er gehört und ob er sein Weltbild erschüttert haben möchte. 😉

Für richtige Holmes-Nerds wurden übrigens auch einige Insider-Witze eingebaut, wie zum Beispiel die Unklarheit über Watsons Vornamen. (Doyle schrieb ja zuweilen so schludrig, daß er selbst den Namen verwechselte.)

Ein kleiner Fun Fact zum Schluß: Doyle selbst griff in den Holmes-Kanon ein, als er eine spannende Legende hörte, die ihn zu „Der Hund von Baskerville“ inspirierte.
Er holte Holmes und Watson also doch noch einmal aus der Schublade, um eine Art Vorgeschichte zu schreiben, und nach dem kommerziellen Erfolg dieses Buches zahlten die Verlage jeden Preis für neue Geschichten.
So feierte Sherlock Holmes seine Wiederauferstehung in „Das leere Haus“, worauf noch viele weitere Geschichten folgten.

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Autor: Lesen... in vollen Zügen

Seit 20 Jahren arbeite ich als Buchhändlerin in München und seit 2017 gibt es nun "Lesen... in vollen Zügen". Hier möchte ich euch vorstellen, welche Bücher mich gerade bewegen. Meine Beträge verfasse ich im Plauderton, eben so, wie ich auch mit meinen Kunden im Laden ins Gespäch komme. Der Schwerpunkt liegt dabei auf aktueller deutsch- und englischsprachiger Literatur. Aber ich bin auch ein großer Fan von schönen Illustrationen und stelle deshalb regelmäßig Graphic Novels und spannende illustrierte Sachbücher vor. Zu meinen Lieblingsautoren gehören Haruki Murakami, Banana Yoshimoto und Amélie Nothomb. Außerdem mache ich mir immer wieder Gedanken zum Thema Leseverhalten in der Rubrik Mein Leben als Leser und plaudere aus dem Nähkästchen in Bekenntnisse einer Buchhändlerin. Wem jetzt aber die Züge bei "Lesen... in vollen Zügen" zu kurz kommen, der kann gerne bei In vollen Zügen nach… vorbei schauen. Hier berichte ich von meinen Zugreisen, den Büchern, die mich dabei begleiten, den Städten die ich besuche und natürlich auch von schönen Buchhandlungen, die es dort zu entdecken gibt.

8 Kommentare zu „Review: Dr. Watson“

  1. Hi noch mal. Ja, so wie Du den Comic beschreibst, werde ich ihn auf alle Fälle doch bei Gelegenheit noch erwerben. Grundsätzlich bin ich immer total glücklich, wenn noch mal was aus dem Holmes und Watson Universum erscheint, aber es gibt einfach so viel, dass ich mittlerweile sehr genau überlege. Auch hatte ich wohl einfach zu wenig Zeit um mir den Comic genauer anzusehen. Danke, dass Du jetzt so schnell die tolle Review geschrieben hast. (übrigens ein sehr schönes Cover der Baskervilles Ausgabe)
    Liebe Grüsse
    Nina

    Gefällt 2 Personen

  2. Die Graphic Novel klingt richtig gut! Ich habe „Die drei ???“ als Graphic Novel für meine Reading Challenge 2018 gelesen, dich ich leider nicht weiter empfehlen kann. Dr. Watson ist notiert.

    Gefällt 2 Personen

  3. Oh, das klingt fantastisch! Es ist so großartig, dass Doyles Figuren in jedem Medium – egal ob Buch, Graphic Novel oder Film – funktionieren und immer wieder neu erfunden und interpretiert werden 🙂 Sherlockianische Grüße!

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